Interviews

Nagin Ravand über den Wünsch, die Welt durch Fussball zu verändern

Nagin Ravand ist Teil unserer Summer-Read-Reihe – einer Reihe von Interviews, die Talente feiert und möglicherweise die gängigen Vorstellungen darüber, was in uns selbst und in anderen Talente zum Vorschein bringt, in Frage stellt, in ein neues Licht rückt oder gar erstrahlen lässt. 

Das Interview wurde von dem Journalisten Kasper Steenbach geführt.Foto: Tobias Nicolai.

Nagin Ravand ist aktuell 24 Jahre alt, hat einen Bachelor-Abschluss in Erziehungswissenschaften der Universität Aarhus und studiert derzeit im Masterstudiengang Kriminologie an der Universität Aalborg. Neben anderen Vertrauenspositionen ist sie Vertreterin der Gemeinde im Ausschuss für Vielfalt und Gleichstellung in der Stadt Aarhus, Botschafterin im Jugend Advisory Board der DBU Jütland, Mitglied des Think Tank für Jugendkultur in der dänischen Schlösser- und Kulturbehörde und Projektmanagerin für das Unisport-Stipendium, einem Stipendium, das anderen Fußballbegeisterten hilft, die Welt durch Fußball zu verbessern. 

Im Jahr 2020 erhielt sie den Mädchenpreis der Stiftung PlanBørnefonden „für ihre Arbeit, Mädchen mit Migrationshintergrund in Gellerup den Zugang zum Sport zu ermöglichen“. Der Preis wurde in Verbindung mit dem Internationalen Welt-Mädchentag der UN am 11. Oktober desselben Jahres verliehen.

Nagin Ravand ist heute nicht mehr Mitglied der Mädchenfußballabteilung des ACFC. Sie selbst spielte in ihren ersten Seniorenjahren bei Brabrand IF, wo sie wegen ihrer soliden Schultertacklings den Spitznamen „Die Hockeyspielerin“ erhielt. Im Frühling 2021 gründete sie eine Frauenmannschaft im Verein Vatanspor, der sich im gleichen Stadtteil befindet. Zu dieser Mannschaft gehören Spielerinnen mit Wurzeln in Dänemark, Afghanistan, Palästina, Kurdistan, der Türkei, Somalia und Kenia.

Im Januar 2023 rief sie die internationale Organisation Globall ins Leben, die sich für den gleichberechtigten Zugang von Mädchen und Frauen zum Fußball einsetzt, und zwar unabhängig von deren kulturellem Hintergrund.

Im Alter von 16 Jahren brachte sie in Aarhus im Stadtteil Gellerupparken Mädchen verschiedener ethnischer Minderheiten zum Fußballspielen Heute träumt Nagin Ravand davon, die Entwicklung des Frauenfußballs von der FIFA-Spitze aus zu beeinflussen – und die afghanische Frauen-Nationalmannschaft zu leiten. Hier erklärt sie, wie der Fußball für sie zu einem Mittel geworden ist, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Ich wurde im Juni 1999 geboren und war erst drei Jahre alt, als ich mit meinen Eltern und Geschwistern als UN-Kontingentgeflüchtete aus Afghanistan nach Dänemark kam. Wir ließen uns in Nørresundby in Nordjütland nieder, und ich muss 10 Jahre alt gewesen sein, als ich mit einer Freundin das Fußballtraining bei Lindholm IF besuchte. Mein erster Eindruck war vielmehr ein Erstaunen darüber, dass ich erst jetzt feststellte, dass solche Gemeinschaften auch außerhalb der Schule existieren.. Ein Ort, an dem sich auch die Mädchen aus der Klasse trafen. Ich fühlte mich also noch mehr außen vor, als ich erstmals zum Training eingeladen wurde.

Aber dieses Gefühl wurde schnell von der Freude verdrängt, die ich empfand, als das Training losging. Ich liebte das Gefühl, das Fußball mir gab: Wenn ich mit dem Ball auf dem Rasen stand, dann zählten nur noch das Tor und der Weg dorthin. Dieses Gefühl habe ich auch heute noch, wenn ich Fußball spiele. Ich habe zudem schnell festgestellt, dass ich ein Talent für diesen Sport besitze, und in der Folge mehrere Trainingseinheiten im Talentzentrum von AaB in Aalborg absolviert.

"Der Fußball gibt mir die Gewissheit, dass ich etwas wirklich gut kann, aber er erinnert mich auch daran, dass man immer darauf angewiesen ist, dass andere mit einem spielen wollen, und in dieser Hinsicht hat er mich zu einem sehr offenen Menschen gemacht."




Mein größter Traum als Fußballerin war stets, einfach weiter spielen zu können und noch besser zu werden. Ich genoss den Hype, der mir zuteil wurde, wenn ich an einer ganzen Jungenmannschaft vorbei dribbelte oder wenn ich einen neuen Trick gelernt hatte. Ich stand in ständigem Wettbewerb mit mir selbst, aber ich hatte nie wirklich ein größeres Ziel, von dem ich träumte. Als Kind aus Afghanistan nahm ich irgendwie alles so, wie es ging. Weiter dachte ich nie. Ich lebte ja bereits meinen Traum: In Dänemark zu sein, Fußball zu spielen, gut darin zu sein. Dies war mein Traum. Dies ist ein Traum, für den viele in Afghanistan noch immer kämpfen. In meiner Position war es schwer, nach mehr zu fragen oder von noch mehr zu träumen. Ist das nachvollziehbar? Ich glaube, ich war zu sehr damit beschäftigt, für etwas dankbar zu sein, das ja eigentlich von Anfang an mein Recht war. Dies ist ein schwieriger Balanceakt.

Nachdem wir 2013 nach Gellerupparken in den Aarhuser Vorort Brabrand gezogen waren, musste ich feststellen, dass es dort keine Fußballmannschaften für Mädchen gab. Ich baute jedoch schnell guten Kontakt zu den ehrenamtlichen Mitgliedern des ACFC (Activity Centre Football Club)auf, weil ich ständig auf deren Plätzen spielte. Auf gemeinsame Initiative von mir und dem Jugendleiter Mac gründeten wir eine Abteilung für 9- bis 16-jährige Mädchen im Club. Mac war meine ständige Unterstützung und rechte Hand, er war es deshalb auch, der mir den Mut gab, diesen Schritt zu wagen. Wir wollten etwas schaffen, das größer war als wir selbst, und von da an übernahm ich die Verantwortung und setzte einen Prozess in Gang, der langsam Früchte zu tragen begann.

Die größten Hürden waren sicherlich die Vorurteile. Ich erinnere mich deutlich an die Blicke, die mir und den anderen Mädchen zugeworfen wurden, wenn wir zu Auswärtsspielen gingen. Allzu oft bekamen wir zu hören, dass unseren Gegenspielerinnen, die wir noch nie zuvor getroffen hatten, gesagt wurde: ‚Nehmt euch vor denen in Acht‘, und das, bevor das Spiel überhaupt begonnen hatte. Es sind Aussagen wie diese, die dazu führen, dass man einfach keine Lust mehr hat, einen Fuß auf einen Fußballplatz zu setzen, wenn man bereits als aggressiv eingestuft oder mit einem Stereotyp in Verbindung gebracht wird, bevor man sich auf und neben dem Spielfeld beweisen konnte. Dies führte dazu, dass einige meiner Spielerinnen an keinen Turnieren mehr teilnehmen wollten. Sie konnten sehen, dass ihre Freistöße nicht einfach nur Freistöße waren. Es waren immer Freistöße, der von aggressiven Musliminnen getätigt wurden.

Ein weiterer Punkt, der mich störte und mein Selbstvertrauen erschütterte, war die Tatsache, dass ich selbst nie wirklich als Trainerin anerkannt wurde. Und wenn jemand nicht umhinkam, mich als Trainerin anzusprechen, geschah dies immer mit einem halben Lächeln und hochgezogenen Augenbrauen. Ob dies nun daran lag, dass ich 16 Jahre alt und weiblich war, oder daran, dass ich ein Kopftuch trug, oder vielleicht an allem zusammen, kann ich nicht sagen. Ich wurde jedoch immer so angesehen, als hätte ich keinerlei Kompetenzen vorzuweisen.


“Meine schönste Erinnerung ist aber definitiv das erste Turnier der Mädchen und mein erstes Spiel als Trainerin. In dem Moment, als die Mädchen in voller Kampfmontur und mit hoch erhobenen Köpfen das Spielfeld betraten, war ich überaus stolz und nahezu glücklich über die Situation. Es war nur ein gewöhnliches Fußballspiel, aber in vielerlei Hinsicht bedeutete es alles für uns.”




Wenn ich die jüngere Nagin Ravand heute auf der Straße treffen würde, als sie gerade die Mädchenfußballabteilung des ACFC gründen wollte, würde ich ihr sagen: Immer, wenn sich etwas schwierig anfühlt oder eine gewisse Unsicherheit hervorruft, ist dies ein Zeichen dafür, dass man auf dem richtigen Weg ist.

Oftmals musste ich auch Folgendes anhören: Du hast zwar dazu beigetragen, dass viele Mädchen ein gesundes Freizeitinteresse gefunden haben, aber du hältst sie auch in einem Migrationsmilieu fest und tust damit nichts Gutes für ihre Integration. Ich kann diesen Einwand nachvollziehen. Am Anfang hätte ich wahrscheinlich geantwortet, dass es vor allem darauf ankommt, dass man die Möglichkeit bekommt, sich zu bewegen, und dann ist es egal, wo und mit wem, denn der Fußball hat die Fähigkeit, Menschen über alle Unterschiede hinweg zusammenzubringen – ob einem das gefällt oder nicht. Es geht also in Wirklichkeit nur darum, auf die eine oder andere Weise anzufangen. Dazu stehe ich nach wie vor.

Andererseits müssen sich die Kritiker des Projekts auch die Frage stellen, warum es überhaupt notwendig ist, ein ‚eigenes‘ Projekt zu entwickeln. Wenn es in den bestehenden Organisationen wirklich Platz für Mädchen aus ethnischen Minderheiten gäbe, wäre dann dieser Bedarf überhaupt vorhanden gewesen? Es gibt ein oder zwei Clubs in der Nähe des Gellerupparken – warum spielen nicht alle Mädchen einfach dort? Ich denke, dies wäre toll, aber dies ist einfach nicht der Fall. Dies entspricht nicht der Realität. Das ist keine Kritik an diesen Vereinen, sondern eine Frage von Inklusivität. KÖNNEN und WOLLEN diese Vereine alle Mädchen einschließen? Und wenn man diese Frage jetzt schnell mit ‚Ja‘ beantwortet, dann sollte man einen Blick nach innen und auf die Strukturen werfen, um zu sehen, ob aktiv etwas dafür getan wird, um dieses Ziel zu erreichen.

Nicht alle können sich für alles einsetzen, daher ist es ein großer Gewinn, dass manche Menschen die Initiative ergreifen, um ‚ihr Eigenes‘ zu schaffen. Denn die Alternative wäre in meinem Fall, dass diese zahlreichen Mädchen zu diesem Zeitpunkt nicht Fußball gespielt hätten. Meiner Meinung nach kann es immer nu zu lange dauern, um auf den Fußballplatz zu kommen.

Also ja, heute habe ich tatsächlich größere Träume in Verbindung mit Fußball als nur den, Fußball zu spielen. Grundsätzlich gesagt: Ich kämpfe dafür, dass Mädchen und Frauen, die einer ethnischen Minderheit angehören, auf dem Fußballplatz die gleichen Chancen haben wie die Mehrheitsgesellschaft. Es sind nicht nur die Möglichkeiten, die ich schaffen möchte, sondern auch die richtigen Bedingungen, um sich zu 100 Prozent einbringen und sein volles Potenzial gleichberechtigt mit allen anderen nutzen zu können. Ziel ist es, die Ungleichheit in der Welt des Fußballs zu verringern. Und wenn wir schon dabei sind: Ich träume davon, im FIFA-Exekutivkomitee zu sitzen, um die Richtung des Frauenfußballs auf der ganzen Welt mitzugestalten. Und ich träume davon, die afghanische Frauennationalmannschaft zu leiten und Afghanistan in einer Zeit zu repräsentieren, in der das Land dies dringender denn je gebrauchen könnte.

Watch the reel with Nagin Ravand at @madsnorgaard here